27.01.2015
Mit sechs kleinen Kindern zwischen die Fronten geraten

In Drakenburg leben seit September letzten Jahres die Eheleute Enas und Said Moustafa mit ihren sechs Kindern Youssif ( 11), Yasmin (10), Manal ( 8) Ahmad und Aya ( 6) und Abdulrahman (5). Die Tochter Yasmin ist querschnittsgelähmt und auf den Rollstuhl angewiesen.
Bei einem Besuch der grünen Bundestagsabgeordneten Katja Keul und Karim Iraki, Integrationsmentor und stellvertretender Bürgermeister von Langendamm erzählten sie, warum sie Libyen verlassen mussten und nach Deutschland geflohen sind.
Die Moustafas sind Palästinenser, die bereits selbst in Libyen geboren und aufgewachsen sind. Said ist Automechaniker und hatte sich in Misrata eine eigene wirtschaftliche Existenz mit seiner Werkstatt aufgebaut, als 2011 der Aufstand gegen Gaddafi begann. „Es ging uns bis dahin gut in Libyen“, betont der Familienvater.
Im März 2011 eskalierten die Kämpfe um die Stadt Misrata und die Milizen rückten mit Panzern und schwerer Artillerie in die Stadt ein. Die meisten libyschen Einwohner verließen die Stadt rechtzeitig und brachten sich bei Verwandten auf dem Lande in Sicherheit. Da die Moustafas als Palästinenser keine weiteren Verwandten hatten blieben sie allein mit einer weiteren ägyptischen Familie in ihrem Viertel übrig. Auch die Eltern von Enas waren einige Straßen weiter in der Stadt geblieben.
Die Panzer und die Scharfschützen schossen auf alles was sich bewegte und die Moustafas konnten ihre Wohnung nicht mehr verlassen. Die Kinder versteckten sich vor Angst vor den ständigen Schüssen im Schrank. So lagen sie etwa 20 Tage ohne Strom unter Beschuß. Nach und nach gingen auch Kerzen, Lebensmittel und Wasser aus. Der eigene PKW, mit dem die Familie ursprünglich aus der Stadt fliehen wollte, war durch eine Bombe zerstört worden.
Der Bruder von Enas, der in einem nahe gelegenen Krankenhaus arbeitete versuchte mit einem Krankenwagen zu der Familie durchzudringen, um sie aus der Kampfzone zu bringen – erfolglos.
Nach 20 Tagen sah sich der Familienvater gezwungen das Haus zu verlassen um Wasser zu organisieren. Ein Panzer entdeckte ihn und schoss auf das mehrgeschossige Haus. Die oberen Stockwerke wurden dabei zerstört und stürzten ein. Auch im Erdgeschoß, wo die Moustafas festsaßen war die Rauchentwicklung unerträglich.
„Am Ende habe ich gedacht, es ist egal, ob wir hier drinnen oder draußen sterben“, berichtet Said. „Meine Frau und ich haben jeweils zwei Kinder an die Hand genommen und sind zwischen den Scharfschützen hindurch auf die andere Seite der großen und breiten Straßen gerannt. Irgendwo habe ich eine offene Tür gefunden und meine Kinder unter eine Kellertreppe gesetzt. Dann bin ich zurück gelaufen um die beiden weiteren Kinder zu holen. Es war ein sehr langer Weg über diese Straße.“
Vom 20. März bis zum 20. April 2011 mußte die Familie insgesamt 11 Mal ihr Versteck wechseln bis es ihnen endlich gelang die Stadt zu verlassen und nach Bengasi zu fliehen, wo der Aufstand bereits beendet war. Von Mai bis Juli blieben sie in Bengasi. Als die Kämpfe in Misrata vorbei waren kehrten sie dorthin zurück in ihre Wohnung, die sie wieder bewohnen konnten.
Nach dem Tod Gaddafis kehrte erstmal wieder Ruhe ein. In 2012 und 2013 konnten die Kinder auch teilweise wieder zur Schule gehen und Said nahm die Arbeit in seiner Werkstatt wieder auf.
Seit Anfang 2014 steht allerdings Misrata wieder im Zentrum des Interesses der konkurrierenden Milizen. Die Stämme und Milizen, die während der Revolution gegen Gaddafi kämpften waren nicht bereit, sich der Staatsgewalt zu unterstellen. Außerdem verbündeten sich Islamistische Gruppen mit ehemaligen Anhängern Gaddafis.
Nach den Parlamentswahlen im Juni 2014 stürmten bewaffnete Islamisten das Parlament in Tripolis. Daraufhin haben sich die regulären libyschen Abgeordneten aus Sicherheitsgründen in die Küstenstadt Tobruk zurück gezogen, rund 1000 km östlich von Triolis, wo sie bis heute ausharren.
Inzwischen kann in Libyen von einem Stellvertreterkrieg gesprochen werden, so die Einschätzung Keuls, die im Februar mit einer parlamentarischen Delegation nach Tunesien und Algerien reisen wird, um sich u.a. über sicherheitspolitische Lage in der Region zu informieren.
Ägyptische Militärflugzeuge bombardieren seit dem Herbst 2014 Stellungen der Islamisten in Tripolis und Bengasi mit Unterstützung der Vereinigten Arabischen Emirare. Die Islamisten wiederrum erhalten Unterstützung von Katar und der Türkei, so Keul.
Die islamistischen Milizen werfen der Bevölkerung in Misrata vor, Schuld am Tod Gaddafis zu sein. Erpressungen und Entführungen auch von Kindern sind an der Tagesordnung, berichtet Said. In den letzten Monaten wurde er immer wieder gezwungen die Sicherung von gestohlenen Autos für die Milizen zu entfernen.
Als er auch noch unter Druck gesetzt wurde, weil er Autos zu Bomben präparieren sollte wusste er, dass er diesmal die Stadt endgültig verlassen müssen und alles was er sich in seinem Leben aufgebaut hatte zurück lassen würde. Noch einmal wollte er nicht mit seinen Kindern zwischen die Fronten geraten. Weil arabische Länder nicht bereit sind, Palästinenser aufzunehmen gab es nur noch die Entscheidung für Europa.
Keul meint, dass die Moustafas im letzten Moment die richtige Entscheidung getroffen haben, denn das Land versinke seither zunehmend in Chaos und Gewalt.
Für die Schiffüberfahrt nach Italien mußte die Familie an die Schleuser 1.200 Dollar pro Erwachsene und 500 Dollar pro Kind bezahlen. Am 03.09. erreichten sie Mailand und fuhren dort mit dem Zug über Frankreich nach Deutschland, wo sie sich in Frankfurt bei der Polizei meldeten. In der Aufnahmeeinrichtung in Braunschweig stellten sie dann einen Asylantrag.
Noch im selben Monat konnten sie in Drakenburg ihre neue Wohnung beziehen. Die drei Großen Kinder besuchen seitdem die örtliche Grundschule und sprechen bereits ein wenig Deutsch, während die drei kleinen noch auf einen Kindergartenplatz warten müssen.
Yasmin erhält außerdem medizinische Betreuung. Damit sie einen Schwerbehindertenausweis und auch einen eigenen passenden Rollstuhl bekommt fährt Iraki in Kürze mit ihr zum Sozialpädiatrischen Zentrum nach Hannover.
Die Moustafas baten ihre Besucher der heimischen Bevölkerung, insbesondere den Drakenburger Nachbarn ihre Dankbarkeit für die freundliche Aufnahme zu übermitteln. Sei seien bisher auf große Hilfsbereitschaft gestoßen und niemand sei unfreundlich zu ihnen gewesen.
Auf die Frage, was sie sich am meisten wünschten erklärten die Eltern, dass sie gerne Deutsch lernen würden. Bislang steht ihnen kein Integrationskurs zu, da ihr Verfahren noch nicht abgeschlossen sei.Keul zeigte sich erstaunt, dass bislang nicht einmal die Anhörung durchgeführt worden sei.
Sollte sich jemand in der näheren Umgebung der Familie in der Lage sehen, Hilfe beim Erlernen der deutschen Sprache zu gewähren kann er sich bei Karim Iraki, unter 0172- 6938101 melden.
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